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Neue Chancen für gering literalisierte Menschen in Sachsen-Anhalt

Grundbildung im ländlichen Raum benötigt Erfahrung und Ausdauer

(Von Walter Liedtke, 29.11.2021) 

Menschen, die kaum lesen, schreiben und rechnen können, benötigen Unterstützung, um am normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Die Ländliche Erwachsenenbildung in Sachsen-Anhalt e. V. (LEB) widmet sich seit etwa zehn Jahren diesem Phänomen. Genau an dieser Stelle setzt auch das Förderprogramm „Alphabetisierung und Verbesserung der Grundbildung Erwachsener im Rahmen des lebenslangen Lernens“ des Europäischen Sozialfonds (ESF) an. In den vergangenen zwei Jahren konnten mithilfe von knapp 650.000 Euro aus dem ESF gut 100 Menschen in ländlichen Gebieten unseres Bundeslandes die positive Erfahrung machen, wie wichtig die Schreib- und Lesekompetenz ist, um ihre Lebensumstände Schritt für Schritt zu verbessern. Vier Teams motivieren in den Regionen Altmark, Anhalt-Wittenberg, Stendal und Harz diese Menschen dazu, besser lesen, schreiben und rechnen zu können und eine Arbeit zu finden. 

Impfunterlagen sind unüberwindliche Hindernisse

Laut der LEO-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018 zur Lese- und Schreibkompetenz der deutsch sprechenden erwachsenen Bevölkerung können 6,2 Millionen Erwachsene im Alter zwischen 18 und 64 Jahren nicht gut genug lesen und schreiben, um sich im Alltag zurechtzufinden. Darunter sind mehr Männer als Frauen und mehr ältere als jüngere Menschen. „Sie sind vielfach auf sich allein angewiesen und benötigen Unterstützung,“ berichtet Dr. Ralf Gladigau, der Geschäftsführer der Ländlichen Erwachsenenbildung in Sachsen-Anhalt: „Sie haben neben fehlenden Lese- und Schreibkompetenzen auch Probleme beim Rechnen und kommen daher mit ihren Finanzen nicht klar. Sie haben Schwierigkeiten beim Ausfüllen von jeglichen Formularen.“ Viele dieser Menschen, auch in den ländlichen Gebieten von Sachsen-Anhalt, haben große Angst, zu Ärzten zu gehen. Im letzten Jahr wurde dies besonders offensichtlich, da viele die Corona-Schnelltests und die Impfungen verweigert haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LEB-Grundbildungsprojekts haben mit ihren Teilnehmenden ausführlich über die Corona-Pandemie gesprochen und sie auch zu Impfterminen begleitet – mit Erfolg: „Bis auf ganz wenige Ausnahmen sind alle in den Kursen doppelt geimpft.“

Vermittlung durch Jobcenter

Die meisten Teilnehmenden an den Grundbildungskursen werden über die Jobcenter vermittelt. Sie sind ohne Arbeit, sie sind häufig gesundheitlich eingeschränkt und haben auch Probleme mit ihrer finanziellen Situation. „Was für uns ganz normal ist, ist für die betroffenen Menschen eine fremde Welt. Viele waren zum Beispiel noch nie in einem Buchladen“, berichtet Ralf Gladigau. Diese Langzeitarbeitslosen gehen über einen Zeitraum von neun Monaten zu einem Grundbildungskurs mit insgesamt 400 Unterrichtsstunden. Das Netzwerk ist breit aufgestellt: Regionale Partner sind neben den Jobcentern verschiedene Beratungsstellen der Landkreise, unter anderem aber auch das Berufsbildungswerk, die Caritas oder das Deutsche Rote Kreuz. Die Teilnehmenden sind in der Regel nur an zwei Tagen vor Ort in der Schulungsstätte: „Die LEB setzt auf eine Kombination aus Grundbildungsunterricht mit sozialpädagogischer Betreuung und der Möglichkeit, an drei Tagen pro Woche Arbeitserfahrungsplätze in Unternehmen zu besuchen. Diese Tätigkeiten werden von den Kursteilnehmenden selbst schriftlich dokumentiert. Daran erkennen wir dann auch, wie gut ihnen der Einstieg ins Arbeitsleben gelingt und welche Fortschritte sie gemacht haben.

Neue Arbeit, neues Selbstbewusstsein

Aus den vergangenen Jahren gibt es einige Beispiele von Menschen, deren Leben sich durch das Grundbildungsprojekt positiv verändert hat: „In Gräfenhainichen hat zum Beispiel ein älterer Teilnehmer, der anfangs nur einige Buchstaben erkennen und schreiben konnte, zwei Kurse durchlaufen“, berichtet Ralf Gladigau: „Danach konnte er einen Kurzlehrgang als Gästeführer bei einem gemeinnützigen Verein abschließen. Anschließend hat er einen Minijob gefunden, den er bis heute noch hat.“ Er geht auch jetzt noch regelmäßig zum „Offenen Lerntreff“, der seit 2020 in Gräfenhainichen angeboten wird und befasst sich weiter mit Lesen, Schreiben und Grundbildung.

Ein weiteres Beispiel aus Salzwedel: Hier kam ein junger, arbeitsloser Altenpflegehelfer über das Jobcenter in die Maßnahme. Ihm fielen die Dokumentationen, die für die Arbeit notwendig waren, unheimlich schwer. Das konnte er nicht. Durch die Teilnahme an dem Kurs gelang es ihm, so sicher im Schreiben zu werden, dass er diese Berichte zufriedenstellend anfertigen kann. „Danach hat er einen festen Job als Altenpflegehelfer bekommen.“In Stendal nahm eine ältere Frau an dem Grundbildungskurs teil. „Sie war sehr verängstigt, konnte gerade mal Buchstaben malen und hatte gar kein Selbstbewusstsein“, berichtet Ralf Gladigau: „Sie hat sich mit der Zeit geöffnet und Vertrauen zu den Betreuern entwickelt. Inzwischen tritt sie ganz anders auf, liest unter anderem Zeitungsartikel und hat einen Minijob angenommen.“

Man kann viel erreichen

Um solche positiven Veränderungen zu erreichen, müssen die LEB-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an den Standorten tätig sind und die Kurse leiten, vielfältige Fähigkeiten besitzen. Die Fachkräfte verfügen über mehrere Qualifikationen. Viele haben Erfahrungen im Unterricht, in der Ausbildung, der Beratung und der Erwachsenenbildung. „Das Entscheidende ist, dass man sich auf diese Menschen einlässt“, fasst es Ralf Gladigau zusammen: „Man muss sie als Erwachsene ernst nehmen und einen Zugang zu ihnen finden. Das geht größtenteils nur über aktuelle Themen und über Alltagsprobleme. Die Teilnehmenden müssen selbst lernen wollen. In der Gestaltung der Kurse dürfen der Spaß und die Kreativität nicht zu kurz kommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bilden sich deswegen auch laufend fort und tauschen sich untereinander aus, zum Beispiel beim Einsatz digitaler Medien.“ Begleitend zu den Kursen sind Sensibilisierungsaktivitäten notwendig. In Seminaren sensibilisieren sie viele Beschäftigte in Jobcentern sowie Gruppen und Vereine im ländlichen Raum zum Thema Analphabetismus, damit diese Betroffene erkennen und über Hilfs- und Lernangebote informieren können. Doch die Arbeit bleibt herausfordernd: Selbst, wenn eine Kursgruppe mit sechs bis acht Personen relativ klein ist, haben die Teilnehmenden oft bis zu drei unterschiedliche Alpha-Level. Darüber hinaus haben die Kursteilnehmenden weitere individuelle Hemmnisse, bei denen die Fachkräfte mit viel Ausdauer unterstützen müssen. „Ihre Tätigkeit ist immer eine Kombination aus sozialpädagogischer Beratung und Bildungsarbeit.“ Ralf Gladigau: „So kann man unheimlich viel erreichen.“

Hier finden Sie weitere interessante Beispiele, wie die Menschen von EU-Fördermitteln aus ELER, EFRE und ESF in Sachsen-Anhalt nachhaltig profitieren. 

Weitere Quellen: