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Das Leben neu buchstabieren

Die Kreisvolkshochschule Börde bekämpft funktionalen Analphabetismus

 

Von Bianca Kahl

Es ist ein Büro mit großen Bildern von Papageien und einem Kolibri, der aus einer Blüte trinkt. Sylvia Grunwald ist eine Frau, die immer lächelt, die sich anderen zuwendet, ihnen in die Augen schaut – egal, wie häufig das Telefon klingelt, wie oft jemand an der Tür klopft. „Sie ist immer da, wenn wir Fragen oder Probleme haben. Alles lässt sie liegen und hört immer zuerst uns an“, sagen auch ihre Schülerinnen und Schüler.

Sylvia Grunwald ist die Leiterin der Kreisvolkshochschule Börde. An ihrer Schule werden Erwachsene unterrichtet, auch im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Angst sei dabei das größte Hindernis: „Der schwerste Schritt ist, die Menschen erst einmal hier her zu bekommen. Wenn sie einmal über unsere Schwelle gegangen sind und die Gruppe kennen gelernt haben, dann atmen alle durch und es wird leichter.“

Funktionaler Analphabetismus ist ein Problem, das stark zunimmt. Mehr als vierzehn Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen sind in Deutschland betroffen. Ursachen sieht Sylvia Grunwald zum Beispiel in häufigen Schulwechseln, unsensiblen Lehrern, fehlender Bildung und anderen Schwierigkeiten im Elternhaus. Auch ein geringes Selbstwertgefühl, Lernschwächen und andere wiederkehrende Probleme spielen eine Rolle, die letztlich eine Schulangst aufbauen und somit in einen Teufelskreis führen. Zudem fällt die wachsende Zahl an Zuwandererfamilien mit anderer Muttersprache zunehmend ins Gewicht.

Zofia Nowak* ist vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen, um bei ihrer Familie leben zu können. Die 58-Jährige kann in ihrer Muttersprache ohne Probleme lesen und schreiben, hat 40 Jahre lang in einem Büro gearbeitet. Mündlich kann sie sich auch in Deutsch schon ganz gut verständigen. Doch wenn sie ein Formular vom Arbeitsamt in der Hand hat, kommt die Angst, zu unterschreiben. Denn sie versteht nicht, was dort steht.

Dieses Gefühl kennt auch der 34-jährige Andreas Böhmer* aus der Börde. Geboren in Nordrhein-Westfalen als Sohn eines Schaustellers, tingelte er während seiner Kindheit durch ganz Deutschland. Die Schule hat er nur bis zur fünften Klasse besucht – an wechselnden Standorten. Er ist arbeitslos, hat nie einen Abschluss gemacht. Die Scham sein ständiger Begleiter. Bis er 2014 den Mut aufbrachte und sich mit Hilfe des Jobcenters für einen Alphabetisierungskurs an der Kreisvolkshochschule anmeldete, hatte er nie eine Chance, den Teufelskreis zu verlassen. Schon beim Sprechen fällt er aus dem Rahmen: „Wir helfen uns gegeneinander“, sagt er über die Stimmung im Kurs und Zofia Nowak stimmt ihm sofort zu. Wie in einer kleinen Familie gehe es zu. „Und das Schöne daran ist: Es macht Spaß“, finden die beiden.

Funktionaler Analphabetismus bedeutet nicht, dass immer mehr Menschen gar nicht lesen und schreiben können. Vielmehr liegen sie unter dem allgemein erwarteten Bildungsstandard in der Gesellschaft. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen. In den niedrigeren Levels verstehen Betroffene nur einzelne Wörter, wenn sie lesen, und keine ganzen Sätze. Ebenso verhält es sich mit dem Schreiben oder der Rechtschreibung. Viele Erwachsene verlernen mit der Zeit auch Grundrechenarten, wenn sie sie im Alltag nicht benötigen.

Diese Schwächen schneiden in den Alltag und verunsichern die Betroffenen, grenzen sie aus. Oft sind sie bemüht, ihre Defizite zu vertuschen und geben lieber eine Arbeitsstelle auf, kommen nicht mehr in die Firma, als offen über ihre Probleme zu sprechen und die Vorgesetzten um Hilfe zu bitten.

Lange Zeit wurde das Problem nicht erkannt, bedauert Sylvia Grunwald, die sich schon seit Jahren für die Grundbildung engagiert. Zu häufig musste sie in anderen Bildungskursen feststellen, dass es an den grundlegenden Dingen mangelt. „Doch dann kam ESF Alpha.“ Die Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse des Europäischen Sozialfonds (ESF) haben Erwachsene mit Problemen rund um die elementare Bildung im Fokus. Die Menschen sollen zurück in die Gesellschaft geholt und ihre Chancen am Arbeitsmarkt verbessert werden.

Im Jahr finden zwei Kurse an der Kreisvolkshochschule Börde statt. Sie schlagen insgesamt mit 45.000 Euro zu Buche und werden mit rund 36.000 Euro aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert. Das bedeutet 600 Unterrichtsstunden für die neun Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Drei Mal pro Woche kommen sie am Vormittag nach Haldensleben, Muttersprachler und Zuwanderer gemeinsam. Über den Kursleiter Heinz Rimkus sagt Zofia Nowak: „Unser Lehrer ist ein guter Mensch. Er erklärt alles und hat viel Geduld.“

Das ist das Wichtigste, weiß Sylvia Grunwald: ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Menschen aufbauen, eine enge Beziehung pflegen, sich mit Respekt und Wertschätzung begegnen. „Wer schlecht lesen, schreiben oder rechnen kann, ist sehr verletzlich. Diese Menschen reagieren äußerst sensibel auf Kritik“, erklärt sie. Angstfrei lernen zu können, steht deshalb ganz oben auf dem Stundenplan an der Kreisvolkshochschule.

Ein weiteres Ziel ist es, den Menschen dabei zu helfen, selbstständiger zu werden. Dennis Musch ist Sozialarbeiter und begleitet das Projekt an der Kreisvolkshochschule. Auch neben dem Unterricht ist er jederzeit ansprechbar. Egal, ob es um Behördengänge, ein gutes Bewerbungsschreiben oder Hilfe beim Umzug geht. Musch ist immer erreichbar, doch mit jedem Mal zieht er sich ein bisschen weiter zurück und ermuntert seine Schützlinge mehr und mehr, es allein zu versuchen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der Teilnehmer Andreas Böhmer hat schon mehrmals an seiner Tür gestanden. Mittlerweile ist er so selbstbewusst, dass er seinen Führerschein machen will. „Das wissen die meisten gar nicht“, sagt Sylvia Grunwald, „dass man auch Auto fahren darf, wenn man nicht perfekt lesen kann.“ Schließlich seien Straßenschilder nichts als Piktogramme und zur Prüfung werden die Aufgaben einfach vorgelesen. Auch hier gebe es also gar keinen Grund, Angst zu haben, versichert sie – und lächelt.

 

* Namen geändert

www.boerdekreis.de/kvhs/index.php