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EU-Mittel helfen beim Lesen, Schreiben und Rechnen

Grundbildungskurs für funktionale Analphabeten in Zerbst/Anhalt

(Von Alexander Lorber, 26.02.2020)

Der Frühstückstisch ist gedeckt, es duftet nach frisch gebrühtem Kaffee und Brötchen. Zwar ist es noch früh am Morgen, aber in der Geschäftsstelle Zerbst/Anhalt der KVHS Anhalt-Bitterfeld des Landkreises Anhalt-Bitterfeld herrscht schon reger Betrieb. Acht Teilnehmende aus dem Grundbildungskurs „Lesen, Schreiben und Rechnen“ treffen sich hier zum gemeinsamen Frühstück. Auch Kursleiterin M. Haase ist schon da und begrüßt alle mit einem freundlichen „Guten Morgen!“. Der Kurs für Menschen mit Lese-, Schreib- und Rechenschwächen wird vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld gefördert. Aktuell nehmen drei Männer und fünf Frauen am Alphabetisierungskurs teil. Jeden Freitagvormittag, frisch gestärkt nach dem gemeinsamen Frühstück – liebevoll von allen Teilnehmenden zelebriert, trainieren sie in sechs Unterrichtsstunden den Umgang mit der Schriftsprache, üben Lesen und Rechnen, aber auch ganz alltägliche Dinge wie Einkaufen, Kochen oder Bahnfahren.

Alles keine Selbstverständlichkeit
„Einige unserer Teilnehmenden waren zu DDR-Zeiten berufstätig, wurden aber mit Schließung ihrer Betriebe arbeitslos und haben irgendwann den Anschluss verpasst“, erklärt Martina Stück (Projektkoordinatorin), die die meisten Teilnehmer schon seit Jahren im Kurs begleitet. „Im Berufsleben haben ihnen Kolleginnen und Kollegen immer geholfen, ihren Job trotz der Defizite beim Lesen, Schreiben und Rechnen zu meistern“, sagt Stück. „Aber dann waren sie plötzlich auf sich alleine gestellt.“ Andere Teilnehmende konnten Defizite nie beheben und fanden nie den Weg ins Berufsleben. Funktionale Analphabeten sind durch ihre Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben ohne Hilfe von außen in vielen Lebensbereichen eingeschränkt. Briefe lesen, verstehen und beantworten, Behördentermine wahrnehmen oder Überweisungen tätigen – die meisten Kursteilnehmenden waren in ihrem Alltag mit fast allem völlig überfordert. Rechnungen und Mahnungen blieben ungeöffnet, schnell häuften sich hohe Schulden an. „Kaum einer unserer Kursteilnehmer war bei Eintritt in unseren Kurs schuldenfrei“, betont Martina Stück. Deshalb haben die Kursleiter sie intensiv dabei unterstützt, die Schulden zu erfassen und in vielen kleinen Schritten abzubauen. Dies ging nur mit einem hohen Maß an gefasstem Vertrauen. „Schließlich kann man sich kaum auf den Unterricht konzentrieren, wenn man ständig den Gerichtsvollzieher fürchten muss“, so Stück.

In kleinen Schritten zum Erfolg
Neben dem normalen Unterricht, in dem sie durch gemeinsames Üben ihre Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen verbessern, führen die Kursleiter mit den Teilnehmenden auch kleinere, praxisorientierte Mikro-Projekte durch, erzählt Martina Stück: „Wir wollen ihnen damit zeigen, dass sie das Erlernte im Alltag gebrauchen können.“ Dies fördert auch den Willen zum Lernen. Zum Beispiel, wenn es ums Kochen geht: In der Volkshochschule haben sie eine eigene Lehrküche, um leckere Speisen zuzubereiten. Aber bevor es mit dem Kochen losgehen kann, müssen die Teilnehmenden erst die Zutaten im Supermarkt besorgen: „Früher habe ich die Lebensmittel nach den schönen Abbildungen auf der Verpackung gekauft, da ich ja nichts lesen konnte“, erzählt eine Teilnehmerin. Im Kurs gehen sie heute gemeinsam durch den Markt, üben das Lesen der Angebote und welche Zutaten und Mengen sie für das Gericht brauchen. „Da sie die Preise früher nicht lesen konnten, entsprachen die Einkäufe unserer Teilnehmer selten ihrem Geldbeutel“, sagt Martina Stück. „Jetzt klappt das prima, und beim Kochen haben sie natürlich auch riesigen Spaß.“

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Der Bezug zur Praxis steht im Grundbildungskurs immer wieder im Vordergrund. So haben sie zum Beispiel das Lesen von Straßenschildern geübt, etwa um den Weg zu einer Behörde zu finden. „Manche Teilnehmer sind früher zu Terminen nicht erschienen, weil sie die richtige Straße ohne Hilfe nie selber gefunden hätten“, erklärt Martina Stück. Genauso schwierig waren Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Schließlich hätten sie die Fahrpläne lesen müssen und die Tarifinfos, um ein Ticket zu ziehen und in den richtigen Bus einzusteigen. „Heute können unsere Teilnehmenden ohne Hilfe mit dem Bus nach Dessau fahren, etwa um einen Arzttermin wahrzunehmen“, erzählt Martina Stück. „Das hat ihr Selbstwertgefühl enorm gestärkt.“ Die vielen Exkursionen ermutigen sie dazu, wieder mehr am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben: Auch mal in den Zoo zu fahren oder ins Theater. Die meisten Teilnehmenden gehen mittlerweile wieder einer geregelten Beschäftigung nach, entweder in Minijobs oder einer geringfügigen Beschäftigung in Vollzeit. „Das war für die meisten ein besonders schwerer Schritt, aber ein wichtiger“, sagt Stück.

ESF macht langfristige Betreuung möglich
Vieles, was sie im dreijährigen Grundbildungskurs machen, wäre ohne die europäischen Fördermittel in Höhe von über 100.000 Euro, die aus dem ESF-Programm „Alphabetisierung und Verbesserung der Grundbildung Erwachsener im Rahmen des lebenslangen Lernens“ kommen, kaum finanzierbar. „Wir besuchen Museen, leihen uns Bücher in der Bibliothek oder fahren zur Landesgartenschau“, so Stück. „Wir haben sogar einmal auf Einladung eines Bundestagsmitglieds das Parlament in Berlin besucht.“ Über die Jahre hat sich gezeigt, dass die Teilnehmenden vor allem Zeit brauchen, um an ihren Problemen zu arbeiten, so Stück. „Auch für uns war die Entwicklung der Teilnehmenden im Projekt ein Erkenntnisprozess. Schnelle Erfolge kann man nicht erwarten, vielmehr machen wir ganz kleine Schritte und wiederholen das Gelernte, bis sich eine gewisse Routine einstellt.“ Komplett überwinden werden die Kursteilnehmenden ihre Defizite natürlich nicht. Aber sie sammeln viele positive Erfahrungen, die ihnen Zuversicht geben.

EU-Anschlussfinanzierung ist gesichert
Mittlerweile sind die Teilnehmenden selbst als Multiplikatoren aktiv, um ihr Umfeld für das Thema funktionaler Analphabetismus zu sensibilisieren. Schließlich nütze es wenig, die Zielgruppe mit Flyern und Inseraten auf das Projekt aufmerksam zu machen, betont Martina Stück: „Viel wichtiger ist es, dass Arbeitgeber sowie Freunde und Familien ein Gespür für eine geringe Lese- und Schreibfähigkeit der Betroffenen entwickeln.“ Daher sei es von unschätzbarem Wert, dass die Teilnehmenden auch als Botschafter für das Projekt werben.
Der Europäische Sozialfonds fördert den Grundbildungskurs noch bis zum 31. Mai 2020. Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld hat sich mit der Kreisvolkshochschule bereits für die Weiterführung der ESF-Förderung beworben und eine Bewilligung erhalten, sodass es im Juni 2020 mit finanzieller Rückendeckung von der EU auf jeden Fall weitergehen wird.

Hier finden Sie weitere interessante Beispiele, wie die Menschen von EU-Fördermitteln aus ELER, EFRE und ESF in Sachsen-Anhalt nachhaltig profitieren

Weitere Quellen:

Netzwerk Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt:
https://alpha-netz-lsa.de/

Informationen zum Grundbildungskurs der Kreisvolkshochschule Anhalt-Bitterfeld:
https://alpha-netz-lsa.de/grundbildungskurs-in-zerbst-anhalt/

Portal „Europa vor Ort in Sachsen-Anhalt“ der Europäischen Kommission