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Vorbei die Zeit der Entschuldigungen

In der Ökostation Neugattersleben soll eine Region zusammenwachsen

(von Bianca Kahl)

Dr. Andrea Finck geht ins Gewächshaus und gießt den Honigmelonensalbei. Braune,  gestreifte oder Litschi-Tomaten, violette Kartoffeln – damit kann man die 58-jährige schon lange nicht mehr überraschen, doch nach wie vor begeistern. Die Naturwissenschaftlerin lebt für ihre Arbeit. Ihr geht es um Liebe und Verantwortung. Für die Natur, für die Menschen, für eine ganze Region. Seit 1998 leitet sie die Ökostation Neugattersleben.

100 verschiedene Tomatensorten und eine ebenso große Auswahl an Küchenkräutern werden in dem kleinen Ort bei Bernburg angebaut. „So nahe wie jetzt bin ich meinen Pflanzen auch noch nicht gekommen“, scherzt Andrea Finck und spielt darauf an, dass ihr Platz normalerweise im Büro der Anlage ist. Doch gerade fehlt es ihr einfach an einer ausreichenden Zahl an Helfern und deshalb muss sie selbst zu Gießkanne und Harke greifen. Die Natur wartet nicht.

Für den Wert und die Bedürfnisse der Natur zu sensibilisieren, das ist die Aufgabe der Ökostation Neugattersleben. Hier hat man sich seit der Gründung 1992 die Umweltbildung auf die Fahnen geschrieben, egal, ob in Form von Freizeitgestaltung für Kindergarten- und Hortkinder, Forschungspraktika und Projekttage für ältere Schüler oder Programme für Erwachsenengruppen und auch Behinderte. Jedes Jahr fest auf dem Plan stehen der Tag der offenen Tür und der Tomatentag im Sommer, der Kartoffeltag im Herbst und mehrere Exkursionen in Naturschutzgebiete, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Andrea Finck wirft noch schnell im Vorbeigehen einen prüfenden Blick auf die Geranien und den frisch gepflanzten Zahnlavendel, kann es sich nicht verkneifen, bei den Gewürzen ein Unkraut aus der Erde zu ziehen und geht dann nach drinnen in die Seminarräume. Heute sind Schüler der 9. Klasse aus Köthen zu Gast. Sie entnehmen Proben aus Gewässern und aus dem Boden im nahen Auenwald, um sie anschließend in der Ökostation zu untersuchen. Die Leiterin schließt eine Trennwand im Seminarraum, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, verteilt Glasröhrchen, Chemikalien und Teststreifen und hilft den Jugendlichen beim Jonglieren mit den Werten: PH-, Nitrit- und Nitratwerte werden bestimmt. Kurzzeitwecker klingeln, die Schüler lernen, wann Böden und Gewässer Lebensräume sind und wann sie giftig werden. Sie notieren alles gewissenhaft in ihre Hefter und gehen anschließend zur Spüle, um ihre Arbeitsmaterialien zu reinigen.

Die alte Schulungsbaracke aus den 70er Jahren wurde erst im vergangenen Jahr umgebaut. Nasse Decken und Außenwände wie auch Schimmel hatten das Gebäude nicht mehr tragbar gemacht. Nachdem die Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis Bernburg die Ökostation 2012 vom vorherigen Träger übernommen hat, machte man sich an die Sanierung, die insgesamt rund 450.000 Euro kostete. Davon kamen mehr als 200.000 Euro aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER).

„Ohne dieses Geld wäre das nicht möglich gewesen“, kommentiert Andrea Finck, die sich selbst seit Jahren in der lokalen Aktionsgruppe für EU-Fördermittel, der sogenannten „LAG Unteres Saaletal und Petersberg“, engagiert. Sie weiß um die Bedeutung von Einrichtungen wie der Ökostation, damit sich ihre Heimatregion nachhaltig entwickeln kann, und arbeitet darauf hin, dass sich die Anlage stetig weiterentwickelt – als Ort der Begegnung und des Lernens.

„Seit dem Umbau können wir uns endlich auch den Behinderten stärker zuwenden“, freut sie sich. Das habe schon lange auf der Agenda gestanden, doch musste sich Andrea Finck bei Interessenten stets entschuldigen: Für Treppen, Schwellen und die fehlende Behindertentoilette. Doch nun ist die Zeit der Entschuldigungen endlich vorbei. Das barrierefreie Gebäude verfügt neben ihrem Büro und den modernen Toiletten über drei Schulungsräume sowie eine extragroße Küche, in der ebenfalls Seminare abgehalten werden können.

„Und im Sommer machen wir hier mit den Leuten eben schönen Tomatensalat mit Kräutern aus dem Garten. Da braucht man nicht mal mehr Salz“, sagt die Leiterin. Neben Naturschutz und gesunder Ernährung stehen auch heilende Gehölze, nachwachsende Rohstoffe und vieles mehr auf dem „Lehrplan“ der Ökostation. Dabei kooperiert die Einrichtung auch mit Universitäten sowie mit der Robert-Bosch-Stiftung und ist Teil von „Na Los!“, des Netzwerkes außerschulischer Lernorte - Schülerlabore Sachsen-Anhalt. Zudem können Interessierte die Anlage für eigene Veranstaltungen mieten.

Die Köthener Schüler sind gegangen, doch Andrea Fincks Tag ist noch lange nicht zu Ende. Sie beantwortet E-Mails, vereinbart am Telefon Ferientermine mit einem Hort, draußen wartet eine weitere Gruppe von Jugendlichen auf ihre Anleitung. Dieses Mal geht es nicht um außerschulische Projekte, sondern um Integration. Es sind junge Männer und Frauen, die größtenteils ihre Ausbildung abgebrochen haben und seit langem keine Anstellung mehr finden. Über ein Förderprogramm der Stiftung Evangelische Jugendhilfe  St. Johannis werden sie wieder fit gemacht für den Arbeitsmarkt. In der Ökostation jäten sie Unkraut, legen Wege an und gewöhnen sich langsam wieder an einen Berufsalltag.

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren schon immer der zweite Schwerpunkt der Ökostation Neugattersleben. In Hochzeiten wurden hier 30 Ein-Euro-Jobber beschäftigt. Aktuell wächst die Einrichtung mit ihrem neuen Träger zusammen und die sozialen Projekte kommen langsam wieder ins Rollen.

Den zweiten Arbeitsmarkt kennt Andrea Finck aus eigener Erfahrung. Sie hatte Agrarwissenschaften in Halle studiert, doch nach der Wende verlor sie wie viele andere ihre Arbeit beim Institut für Getreideforschung und fand keine neue Stelle. Das Arbeitsamt vermittelte sie 1993 als Hilfskraft in die Ökostation. Später wurde sie fest angestellt und seit 1998 leitet sie die Einrichtung. Seit 20 Jahren ist sie dabei. Doch für heute hat sie endlich Feierabend.

http://www.oekostation-neugattersleben.de/
www.leader-saale-petersberg.de

Der ELER trägt in Sachsen-Anhalt mit rund 904 Millionen Euro EU-Mittel - ein Viertel der gesamten dem Land von der EU zugewiesenen Fördergelder - dafür Sorge, dass die Entwicklung des ländlichen Raums sich als integraler Bestandteil der Gesamtpolitik für Beschäftigung und Wachstum vollzieht. Zusammen mit der nationalen Kofinanzierung stehen öffentliche Ausgaben in Höhe von 1,16 Milliarden Euro bereit. Zusätzlich will Sachsen-Anhalt 240 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt beisteuern, so dass das Land rund 1,326 Milliarden Euro für die Entwicklung des ländlichen Raums einsetzen kann.