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Die Tür ins Leben

Florian Schiebel hat dank des Programms „Produktives Lernen“ eine Lehrstelle gefunden
(Text und Bilder von Bianca Kahl)

„Ich war einfach sehr faul und hatte keine Lust auf Schule“, sagt Florian Schiebel über sich selbst. Nicht viele hätten den Mut, so offen zu sein. Doch der 17-Jährige kann es sich leisten, von seinem möglichen Versagen zu erzählen. Von der Perspektivlosigkeit, in die er um ein Haar gerutscht wäre. Denn er spricht in der Vergangenheit.

Heute sitzt er an einem Tisch im sonnendurchfluteten Foyer des Quality Hotels Country Park in Brehna. Vier Sterne hat das Tagungshotel, auf der Vorspeisenkarte des Restaurants steht „Matjestatar, pikant abgeschmeckt auf Reibeplätzchen und Salatbouquet“ oder „Carpaccio vom Angusrind, umlegt mit Bruschetta“. Florian Schiebel kann die Karte auswendig. Er selbst bereitet die Speisen mit zu. Hinter ihm öffnet sich immer wieder die Tür, durch die auch er jeden Tag geht. „Nur für Personal“ steht darauf. Es ist der Zugang zur Küche. Für ihn ist es die Tür in sein neues Leben.

Früher, an der Sekundarschule in Zörbig, blieb er häufig vom Unterricht fern. Die Lehrer hatten es schwer mit ihm. Ob er jemals seinen Hauptschulabschluss schaffen würde, stand in den Sternen. Er lief Gefahr, einer von rund 600 Jugendlichen in Sachsen-Anhalt (9,7 Prozent) zu werden, die 2013 die Schule ohne Abschluss verließen und von einem Ausbildungsplatz lediglich träumen können. Doch eines Tages kamen zwei Lehrkräfte aus Raguhn auf ihn zu und erzählten ihm von einer möglichen Alternative. Sie meinten, er könne es noch immer schaffen. Dass Lernen für ihn einen Sinn ergeben könnte und dass er nicht nur die Schulbank drücken müsse, sondern neben dem Unterricht ganz nach seinen Interessen praktisch arbeiten könne. Sie luden ihn zu sich an die Sekundarschule Raguhn ein.

Das Konzept, nach dem sie arbeiten, heißt „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“. In Sachsen-Anhalt wird es an 22 Schulen angeboten. Bis 2013 wurden dafür insgesamt 2,57 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung gestellt. Für die neue Förderperiode bis 2020 stehen voraussichtlich 1,5 Millionen Euro bereit. Das Programm läuft über die Klassenstufen acht und neun und führt zum Hauptschulabschluss. In den vergangenen Jahren war es für jeweils 200 bis 250 Schülerinnen und Schüler der Rettungsring.

Das Schuljahr teilt sich nicht in zwei Halbjahre, sondern in Trimester. Unterricht findet nur an zwei Tagen pro Woche statt, Schulnoten gibt es erst auf dem Abschlusszeugnis. Die Anzahl der Fächer ist reduziert und die Inhalte richten sich ganz individuell nach den Interessen der Schülerinnen und Schüler sowie danach, was sie gerade in der Praxis benötigen. Denn in jedem Trimester absolvieren sie drei Tage pro Woche ein Praktikum in einem Betrieb ihrer Wahl. Die Jugendlichen wissen also ganz genau, wofür sie lernen und wo es einmal hingehen kann.

„Das fand ich sehr interessant, denn das Praktische liegt mir einfach mehr“, erinnert sich Florian Schiebel. Also wechselte er zur achten Klasse nach Raguhn. Doch auch dort wollte der Knoten noch nicht platzen. „Man musste schon hinterher sein, damit er etwas macht“, erinnert sich die Lehrerin Elke Puschner, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Holger Pannier für Florians Klasse verantwortlich war. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, die Schülerinnen und Schüler individuell zu betreuen. Sie besuchen sie am Praktikumsplatz, beraten in Einzelgesprächen, aber bekommen auch private Probleme mit. Unter Umständen begleiten sie sie sogar auf notwendigen Wegen zu den Ämtern, um ihre Schützlinge auf dem rechten Weg zu halten. Etwas, von dem Florian Schiebel zum Glück nicht betroffen war.

Doch während seiner Praktika als Fahrzeuglackierer oder im Trockenbau meldeten seine Mentoren der Schule, er stehe nur mit Händen in den Taschen da und frage nie irgendwas nach. Er selbst sagt „Da hat sich rausgestellt, dass ich zwei linke Hände habe“ und lacht. Es war einfach nichts für ihn. Doch Ende der achten Klasse bewarb er sich im Hotel in Brehna. 

„Sobald ich hier her kam, lief es super“, erzählt er. Es hat ihm gleich gut gefallen und mit den Kollegen habe er sich auch gut verstanden. „Wir sind der Knackpunkt“, freut sich die stellvertretende Direktorin Anja Beuchelt. „Er hat sich um 180 Grad gedreht.“ Aufgeregt war er am ersten Tag, daran kann sich Florian Schiebel noch gut erinnern. Zunächst ging es an den Abwasch und ans Kartoffeln schälen. Später durfte er dann schon richtig mitarbeiten.

Eigentlich sind die Schüler angehalten, sich immer neue Praktikumsbetriebe zu suchen. Doch wenn irgendwo eine Lehrstelle in Aussicht steht, dann gilt es, sich dort weiter zu beweisen. Dies war hier der Fall. Die Küchenchefin gab Anja Beuchelt einen Wink, dass sie sich den jungen Mann gut in ihrem Team vorstellen könne und Florian bekam einen kleinen Stupser: Er sei willkommen, doch unter einer Bedingung: Er sollte sich in der Schule ranhalten und seinen Abschluss machen.

Das hat gezogen. „Es lief auf einmal“, erzählt der zurückhaltende junge Mann, der am Ende sogar seinen qualifizierten Hauptschulabschluss in den Händen hielt. Am ersten August 2013 begann seine Ausbildung als Koch. Als interessiert und engagiert beschreibt ihn seine Chefin. „Er macht sein Ding, aber hakt Sachen nicht einfach ab, sondern guckt selbst, was er noch tun kann.“ Im September wurde er zum Auszubildenden des Monats gewählt.

„Es soll jeder seine Chance haben“, findet Anja Beuchelt, die sich immer über Praktikantinnen und Parktikanten freut. „Ich guck mir die Menschen an. Wie soll ich denn jemanden anhand eines Papiers einschätzen?“ Florian Schiebels Pause ist zu Ende. Er verabschiedet sich, wendet sich um und geht wieder auf die Küchentür zu. Jetzt ist sein junges Gesicht nicht mehr zu sehen, das sich nicht recht traut, das immer auf der Hut ist und sein Gegenüber vorsichtig beobachtet. Von hinten sieht man nur einen hochgewachsenen und breitschultrigen jungen Mann, der lässig geradeaus geht. Anja Beuchelt schaut ihm nach. „Den kriegen wir schon groß“, sagt sie und lächelt.

Der Europäische Sozialfonds (ESF) ist das soziale Gesicht Europas. Mit rund 640 Millionen Euro unterstützt dieser Fonds der Europäischen Union (EU) von 2007 – 2013 Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Ausbildungsprogramme des Landes Sachsen-Anhalt. Bis 2013 werden so etwa 16 200 Projekte gefördert und damit rund 245 000 Menschen im Land direkt erreicht.