Landkreise Stendal, Börde und Harz treiben Inklusion voran
EU-Mittel verbessern Teilhabechancen für Menschen mit Beeinträchtigungen
(Von Alexander Lorber, 16.06.2020)
Stendal: Als Annemarie Kock vor ein paar Tagen an der Bushaltestelle stand, hörte sie ein Mädchen seine Mutter fragen: „Mama, warum ist die Frau blind?“. Was Kinder im ersten Moment komisch finden, kennt Annemarie Kock gar nicht anders. Sie kam blind zur Welt. Ihre Behinderung hat sie jedoch nicht daran gehindert, am Berufs- und Gesellschaftsleben teilzuhaben. Sie hat Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal studiert und leitet heute die Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ in Stendal. Seit 2018 arbeitet sie mit Johanna Michelis und Claudia Bolde zusammen. Die zwei Teilhabemanagerinnen des Landkreises Stendal setzen sich im Rahmen des landesweiten Programms „Örtliches Teilhabemanagement“ für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein. Das Programm hat sich inzwischen in fast allen Landkreisen und kreisfreien Städten im Land etabliert. Im Landkreis Stendal bauen die Teilhabemanagerinnen aktuell ein aktives Inklusions-Netzwerk auf. Ihre Arbeit wird aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land Sachsen-Anhalt gefördert. „Wir planen regelmäßig gemeinsame Projekte, um mit Betroffenen wie Annemarie Kock die Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen im Landkreis Stendal zu verbessern“, berichtet Johanna Michelis.
Die Barrieren in den Köpfen abbauen
Beim Thema Inklusion denken viele Menschen zunächst vor allem an bauliche Barrieren: Zum Beispiel an den Bau von Fahrstühlen und Rampen, damit Menschen im Rollstuhl ohne besondere Erschwernis und ohne fremde Hilfe in ein Gebäude gelangen. „Klar, das ist auch ein Bestandteil unserer Arbeit“, sagt Claudia Bolde. „Viel mehr Barrieren gibt es aber in den Köpfen. Deshalb arbeiten wir auch daran, die Menschen für das Thema Inklusion zu sensibilisieren und die soziale Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen zu fördern.“ Die beiden Teilhabemanagerinnen haben letztes Jahr zwei Interessengruppen in Stendal und Tangerhütte gegründet. Menschen mit und ohne Behinderung können daran teilnehmen und tauschen Ideen aus, wie ihre Stadt barrierefrei gestaltet werden könnte. Auch Annemarie Kock ist in der Interessengruppe „Barrierefreies Stendal“ aktiv: „Wir machen regelmäßig Stadtteilrundgänge, um verschiedene Stadtgebiete auf ihre Barrierefreiheit hin zu testen.“
Darüber hinaus organisieren die beiden Teilhabemanagerinnen jedes Jahr mit Unterstützung von Annemarie Kock das Schulprojekt „Wie barrierefrei ist meine Stadt?“, um Schulklassen im Landkreis Stendal zu besuchen und den Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer Projektwoche für verschiedene Behinderungen zu sensibilisieren. „Das Schulprojekt ist eine gute Gelegenheit, die Akzeptanz für das Thema Inklusion bei Kindern und Jugendlichen zu steigern“, sagt Kock. Im Jahr 2019 haben Johanna Michelis und Claudia Bolde außerdem auf Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention sowie des Landesaktionsplans Sachsen-Anhalt einen regionalen Aktionsplan erarbeitet, der an unterschiedliche Akteure gerichtete Handlungsbedarfe und Empfehlungen aufzeigt: „Der Aktionsplan umfasst knapp 100 Maßnahmen, die das Ziel haben, allen im Landkreis Stendal lebenden Menschen mit Beeinträchtigungen eine selbstbestimmte, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“, berichtet Johanna Michelis. Der Aktionsplan wird vom Kreistag unterstützt und wurde dort im Dezember 2019 einstimmig beschlossen. „Zurzeit arbeiten wir daran, die Maßnahmen in die Praxis umzusetzen“, so Michelis.
Inklusion geht alle etwas an
Börde: Ein chancengerechtes Zusammenleben zu ermöglichen, dieses Ziel verfolgen auch Sozialamtsleiter Rüdiger Mages und seine beiden Kolleginnen Anne Sophie Fischer und Hannah Giese im Landkreis Börde. „Wir müssen das Thema Inklusion jetzt mit allen Kräften anpacken“, sagt Rüdiger Mages. „Das fängt damit an, dass Inklusion in allen Bereichen mitgedacht wird. In der Verwaltung, beim Bau von Wohnungen, Schulen und Schwimmbädern, auf dem Arbeitsmarkt, beim Straßenbau und im öffentlichen Nahverkehr. Es geht ja nicht nur um Menschen mit Behinderungen, sondern auch um den demografischen Wandel. Unsere Gesellschaft wird immer älter. Das ist eine Herausforderung, der wir uns jetzt stellen müssen. Sonst fällt uns das in ein paar Jahren auf die Füße“, so Mages. Seit 2017 sind die Teilhabemanagerinnen dafür im ganzen Landkreis aktiv, haben Arbeitsgruppen gegründet, die Bevölkerung zur Teilnahme an einer Befragung aufgerufen, aber auch Veranstaltungen organisiert: „Wir haben 2019 eine Workshopreihe zum Thema Beruf und Karriere gestartet, denn der Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Behinderung oft nicht so leicht. Daher möchten wir Unternehmen dafür sensibilisieren, ihnen Fördermöglichkeiten vorstellen und zeigen, wie eine inklusive Arbeitsplatzgestaltung aussehen kann“, erzählt die Teilhabemanagerin Anne Sophie Fischer. Im Zuge des demografischen Wandels ist zudem das Thema Wohnen zurzeit ganz oben auf der Agenda. „Die Kreisverwaltung steht ohnehin im Kontakt mit den Wohnungsbauunternehmen des Landkreises, daher arbeiten wir auch an einer greifbaren Zukunftsvision zur Ausgestaltung von Wohnraum. In diesem Jahr planen wir dazu eine Informationsveranstaltung, um die inklusiven Möglichkeiten durch Smart Home, also die Vernetzung von Technik im Wohnraum, vorzustellen“, berichtet Mages. Leider hat die Corona-Pandemie die Veranstaltungspläne etwas ausgebremst. Aber vom langfristigen Ziel weichen sie dennoch nicht ab: Dafür zu sorgen, dass alle Akteure an einem Strang ziehen! „Deswegen haben wir das Örtliche Teilhabemanagement früh ins langfristig angelegte Entwicklungskonzept des Landkreises in Verbindung mit der Daseinsvorsorge integriert. Wir müssen alle Akteure ins Boot holen, auch die Ämter. Damit alle dazu beitragen, die Inklusion im Landkreis voranzutreiben“, erklärt die Teilhabemanagerin Hannah Giese.
ESF-Mittel fördern gezielt Aktivitäten vor Ort
Harz: Auch im Landkreis Harz wurde das Projekt „Örtliches Teilhabemanagement“ im Jahr 2017 ins Leben gerufen. Hier arbeiten Maximilian Thomsen, Saskia Sommer und Almut Hartung am Ziel, die Barrierefreiheit im Landkreis zu verbessern. Seit Mai 2020 verstärkt außerdem Lisa Foth das Team für den Bereich Barrierefreie Kommunikation. Im letzten Jahr wurde mit externen Akteurinnen und Akteuren ein Handlungskonzept mit insgesamt 29 Maßnahmen entworfen. Erste Maßnahmen wurden schon umgesetzt. So hat sich das Team zum Beispiel Gedanken gemacht, wie man den Tourismus barrierefrei gestalten kann: „Dafür haben wir zahlreiche Gespräche geführt, um von Menschen mit Behinderungen zu erfahren, welche Aktivitäten sie in ihrer Freizeit gerne machen würden und welche Hürden ihnen dabei im Weg stehen“, berichtet Almut Hartung. Aktuell planen sie eine Webseite, die dem inklusiven Tourismus im Landkreis eine Plattform geben soll. „Außerdem haben wir auch die aktuellen Auswirkungen der Corona-Pandemie im Blick, weil sich dadurch zwar einige Hürden für Menschen mit Beeinträchtigung verschärft haben, sich zugleich aber auch viele Menschen solidarisch verhalten und sich nun mehr für Menschen mit Beeinträchtigungen einsetzen, etwa wenn es um Einkäufe geht“, erläutert Teilhabemanagerin Saskia Sommer. Gemeinsam mit Netzwerkpartnern wurde zudem der Anstoß gegeben, im Gesundheitswegweiser des Landkreises erstmals über die Barrierefreiheit von Arztpraxen im Landkreis zu informieren. Die Broschüre liegt zum Mitnehmen in Praxen, Apotheken sowie im Hauptsitz der Kreisverwaltung in Halberstadt und ist auch online verfügbar.
Die Projekte in allen drei Landkreisen sind froh darüber, dass der Europäische Sozialfonds und das Land Sachsen-Anhalt die Personalkosten für das Projekt mitfinanzieren. „Durch die EU-Fördermittel können wir ganz unabhängig von den alltäglichen Aufgaben des Landkreises die Inklusion vor Ort befördern, die Akteure stärker miteinander vernetzen und Hürden entdecken und abbauen“, bestätigt Saskia Sommer.
Hier finden Sie weitere interessante Beispiele, wie die Menschen von EU-Fördermitteln aus ELER, EFRE und ESF in Sachsen-Anhalt nachhaltig profitieren.
Weitere Quellen:
Website des Örtlichen Teilhabemanagements im Landkreis Stendal:
https://www.landkreis-stendal.de/de/teilhabe.html
Website des Örtlichen Teilhabemanagements im Landkreis Börde:
https://www.landkreis-boerde.de/menschen/soziales/oertliches-teilhabemanagement/
Website des Örtlichen Teilhabemanagements im Landkreis Harz:
http://www.kreis-hz.de/de/oertliches-teilhabemanagement/das-oertliche-teilhabemanagement-im-landkreis-harz.html
Portal „Europa vor Ort in Sachsen-Anhalt“ der Europäischen Kommission