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Hier wird geringe Literalität zur Chefsache

ESF-Projekt „ISaGA+“ hilft Betrieben im Umgang mit Betroffenen

(Von Alexander Lorber, 11.03.2021)

In Deutschland gelten rund 6,2 Millionen Menschen als gering literalisiert und haben große Probleme beim Lesen und Schreiben. Erstaunlicherweise sind über 60 Prozent der gering literalisierten Erwachsenen erwerbstätig, wie die LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg zeigt. „Im Arbeitsalltag können viele Betroffene ihre Defizite durch Vermeidungsstrategien geschickt verbergen. Kolleginnen und Kollegen wissen meistens Bescheid und helfen ihnen, indem sie Schreibaufgaben für sie übernehmen. Ausbildern oder Chefs sind die fehlenden Kompetenzen oft gar nicht bekannt“, berichtet Benjamin Gehne, Regionalleiter beim Bildungsträger Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt gGmbH in Magdeburg. „Das geht so lange gut, bis grobe Fehler passieren. Treten die Defizite dann offen zutage, kann ein Ausbildungsverhältnis schlimmstenfalls vorzeitig gekündigt werden“, so Gehne. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels in Sachsen-Anhalt ist jeder Ausbildungsabbruch ein herber Verlust. Deshalb hat der Bildungsträger im Oktober 2015 die „ISaGA“-Initiative ins Leben gerufen. Mit Mitteln aus dem Förderprogramm „Alphabetisierung und Verbesserung der Grundbildung Erwachsener im Rahmen des lebenslangen Lernens“ des Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land Sachsen-Anhalt sensibilisiert das Projekt die Ausbildungsbetriebe für das Thema Analphabetismus bei Erwerbstätigen. Das Projekt war bis 2018 so erfolgreich, dass im Jahr 2019 ein Nachfolgeprojekt gestartet werden konnte. Für dieses Projekt erhält der Bildungsträger rund 270.000 Euro an ESF-Fördermitteln.

Betroffene haben es im Alltag schwer

Geringe Literalität bedeutet, dass die Betroffenen bestenfalls einfache Sätze lesen und schreiben können. Arbeitsanweisungen zu lesen, Anträge auszufüllen oder am Computer zu arbeiten, bereitet ihnen jedoch große Probleme. „Viele haben sich irgendwie durch die Schule geschlagen, doch in der Ausbildung können die Defizite rasch zu Konflikten führen. So werden zum Beispiel Arbeitsanweisungen nicht befolgt, weil sie in Fachsprache formuliert sind und von den Betroffenen nicht verstanden werden“, erklärt Gehne. Wenn die Ausbilder Jugendliche mit dieser Schwäche konfrontieren oder sie vor der Belegschaft bloßstellen, kann es passieren, dass Azubis das Handtuch werfen und die Ausbildung abbrechen. In den Workshops von ISaGA+ lernen Personal- und Ausbildungsverantwortliche daher, wie sie sich im Umgang mit Geringqualifizierten richtig verhalten und sie gezielt fördern können. „Es gibt zahlreiche Angebote, die gering literalisierten Menschen helfen können, im Arbeitsalltag zu bestehen. Dafür muss das Betriebspersonal aber erst ein Gespür entwickeln, ob ihr Auszubildender eventuell eine Lese- oder Schreibschwäche hat“, erklärt Benjamin Gehne. „So manches Ausbildungsverhältnis wird völlig unnötig aufgelöst, weil die Ausbilder gar nicht wissen, wie sie die Jugendlichen unterstützen können.“

Deshalb vermittelt ihnen das Projekt ISaGA+, was geringe Literalität bedeutet, wie die Betroffenen damit umgehen und wie man ihnen helfen kann, passende Hilfsangebote zu finden und in Anspruch zu nehmen. „Ziel ist es, dass der Betrieb Lese- und Schreibdefizite der Jugendlichen bemerkt, Verständnis signalisiert und sie ermutigt, an einem Alphabetisierungskurs teilzunehmen“, betont Gehne. So erhalten die Betroffenen die Chance, ihre Ausbildung trotz vorhandener Defizite zu meistern. In den Workshops von ISaGA+ lernen die Ausbildungskräfte zudem Methoden und Hilfsmittel kennen, die den Arbeitsalltag der jungen Menschen erleichtern sollen: „Sie können zum Beispiel Arbeitsanweisungen bewusst in leichter Sprache formulieren oder den Azubis passende Lern-Apps für das Smartphone empfehlen, die sie bei Problemen im Arbeitsalltag unterstützen“, sagt der Regionalleiter. Zum Schluss erhalten die Teilnehmenden einen „Werkzeugkoffer“, in dem sie Informationsmaterial und Kontakte zu Alphabetisierungsangeboten finden. „So haben sie später gleich die richtigen Ansprechpartner zur Hand, um dem Betroffenen zu helfen“, sagt Gehne.

ESF-Projekt hat den Wandel der Arbeitswelt im Blick

ISaGA+ ist bereits das Nachfolgeprojekt des 2015 gestarteten Projekts ISaGA. „Nach Ablauf der Projektlaufzeit 2018 sollte das Angebot keinesfalls wegbrechen. Also wurde ein Folgeprojekt konzipiert, das jetzt den Namen ISaGA+ trägt und ebenfalls aus ESF-Mitteln gefördert wird“, berichtet Benjamin Gehne. Das Plus im Projekttitel deutet schon darauf hin, dass das Projekt mit der Neuauflage auch inhaltlich angepasst wurde. Das Thema Digitalisierung hat jetzt einen viel höheren Stellenwert: „Es gibt kaum noch Berufe, in denen der Computer gar keine Rolle spielt“, sagt Gehne. „Digitale Medien sind für Menschen mit geringer Literalität jedoch eine große Hürde, weil zum Beispiel ein Formular online viel schwieriger auszufüllen ist als auf dem Papier. Außerdem muss man dafür das Schreiben mit der Tastatur und den Umgang mit dem Computer beherrschen.“ Lebenslanges Lernen wird in der heutigen Arbeitswelt immer wichtiger. Deshalb möchte ISaGA+ das Betriebspersonal auch auf die neuen Hürden aufmerksam machen, die mit der Digitalisierung der Arbeitswelt zusammenhängen.

EU-Mittel gegen den Fachkräftemangel

„Der ESF ist ein ganz wichtiger Grundpfeiler für unsere Arbeit, da wir damit die Möglichkeit haben, um ein solches Projekt anbieten zu können“, so Gehne. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels sei es sehr wichtig, dass Menschen mit geringer Literalität nicht abgehängt werden: „Die Ausbildungsbetriebe melden sich bei uns, weil sie enorme Defizite in der Grundbildung ihrer Auszubildenden feststellen. Das betrifft auch das Lesen und Schreiben. Wir wollen dabei helfen, die jungen Menschen in Beschäftigung zu bringen und zu halten. Sonst besteht die Gefahr, dass ihnen beim Übergang ins Arbeitsleben unnötig Steine in den Weg gelegt werden“, meint Gehne.

Hier finden Sie weitere interessante Beispiele, wie die Menschen von EU-Fördermitteln aus ELER, EFRE und ESF in Sachsen-Anhalt nachhaltig profitieren.

 

Weitere Quellen: