ESF sensibilisiert Mitarbeiter in öffentlichen Einrichtungen
Wie spricht man Betroffene auf ihre Lese- oder Schreibschwäche an?
(Von Sylvia Bösch, 29.08.2018)
Einige haben angeblich ihre Brille vergessen und fragen, ob man ihnen den Text vorlesen könne. Andere geben vor, dass ihre Hand gebrochen oder gesundheitlich beeinträchtigt ist und sie deshalb zurzeit nicht schreiben können. Oder sie bitten darum, dass sie die Unterlagen mit nach Hause nehmen können, um sie in Ruhe durchzulesen. „All das sind schon erste Indizien, die einen stutzig werden lassen sollten und wo man etwas genauer hingucken sollte“, so Klaus Rzejak. „Menschen, die nicht fließend lesen oder schreiben können, haben im Laufe ihres Lebens eine Vielzahl von Vermeidungsstrategien entwickelt, um ihre Schwächen zu verbergen. Ungefähr 50 Prozent der Betroffenen haben einen Schulabschluss oder sogar eine Ausbildung gemacht und es trotzdem irgendwie geschafft, dass ihre Schwäche bisher unbemerkt geblieben ist“, erklärt der Geschäftsführer der Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben“ Sachsen-Anhalt mit Sitz in Magdeburg. Mit dem Leitgedanken „Bildung für Alle von Anfang an“ fördert Arbeit und Leben eine bessere Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsleben. Ein Projekt, das sich mit der Aufklärungsarbeit im Bereich der Alphabetisierung beschäftigt, trägt den Namen „proalpha – Sensibilisierung und Fortbildung öffentlicher Einrichtungen“ und wird mit rund 250.000 Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) unterstützt.
200.000 funktionale Analphabeten leben in Sachsen-Anhalt
Das Projektteam von „proalpha“ sensibilisiert Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen, wie z.B. dem Jobcenter oder Arbeitsagenturen. Diese Sensibilisierungsmaßnahmen sollen ihren Blick und ihr Bewusstsein schärfen, damit sie Erwachsene mit Lese- oder Schreibdefiziten identifizieren können. Denn rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland gehören zu den funktionalen Analphabeten. Etwa 200.000 davon leben in Sachsen-Anhalt. Sie können zwar Buchstaben, Wörter und einzelne Sätze lesen und schreiben, jedoch keine zusammenhängende Texte erfassen. Dadurch werden alltägliche Dinge wie das Lesen einer Bedienungsanleitung oder amtlicher Dokumente schnell zu einer unüberwindlichen Herausforderung. Die Gründe für funktionalen Analphabetismus sind vielschichtig. Nicht selten spielen die familiären und sozialen Verhältnisse eine entscheidende Rolle.
„Im Jahr 2012 wusste die Öffentlichkeit noch so gut wie gar nichts über den funktionalen Analphabetismus. Wir haben daher viele Gespräche mit dem Bildungsministerium geführt, das dieses Thema letztendlich aufgegriffen und eine Richtlinie für Alphabetisierung und Grundbildung erlassen hat“, erinnert sich Klaus Rzejak. Ein Schwerpunkt der Richtlinie ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Weitere Schwerpunkte sind, Personal zu schulen oder Fachkurse für funktionale Analphabeten anzubieten. „Auf Basis dieser Richtlinie hat das Bildungsministerium dafür gesorgt, dass ESF-Mittel für Alphabetisierungsprojekte bereitgestellt werden“, betont Rzejak.
ESF-Projekt hat sich zu einer Fortbildungsreihe entwickelt
„Anfangs haben wir wirklich nur sensibilisiert, also auf den funktionalen Analphabetismus hingewiesen und informiert, wie man damit umgehen kann. Inzwischen bieten wir sechs Module an. So hat sich dieses Projekt langsam zu einer ganzen Fortbildungsreihe weiterentwickelt“, berichtet der Geschäftsführer. „In einem Modul erfahren die Teilnehmenden beispielsweise, wie sie funktionale Analphabeten durch einfache und leichte Schriftsprache besser erreichen. In dem praktischen Teil des Workshops lernen sie, Formulare, Anträge und Informationsbroschüren o.ä. in leichte Sprache zu übersetzen.“ In einem weiteren Modul geht es um motivierende Gesprächsführung. Die Teilnehmenden werden geschult, um Betroffene zu motivieren, sich das Aufnehmen einer Arbeit zuzutrauen und sich trotz aller Schwierigkeiten in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Zu den Partnern des Bildungsträgers zählen vor allem Jobcenter und Arbeitsagenturen sowie Verwaltungen der Landkreise. Ein Pauschalrezept für eine Fortbildung in einer öffentlichen Einrichtung gibt es nicht. Jede Maßnahme wird auf die Institution, das Team und die Situation individuell angepasst. „Neben Sensibilisierungsvorträgen bieten wir Workshops an, die Rollenspiele, Kleingruppenarbeit sowie entsprechende Übungen zum jeweiligen Arbeitskontext der Teilnehmer beinhalten. Manche Fortbildungen dauern einen Tag, andere gehen über mehrere Tage oder Wochen“, erläutert Rzejak. Auch funktionale Analphabeten werden in die Kurse mit eingebunden, damit sie mit den Beschäftigten aus der öffentlichen Verwaltung ins Gespräch kommen und ihre Sicht darstellen können. „Bei einer unserer Fachveranstaltungen hatten wir einmal mehrere Analphabeten zu Gast, die Kurzgeschichten über ihr Leben geschrieben haben. Es war sehr beeindruckend, wie sie geschrieben haben und wie schwer es ihnen fiel, ihre selbst geschriebenen Geschichten vorzulesen“, betont Klaus Rzejak.
Neue Partner und ESF-geförderte Netzwerkstelle
Inzwischen hat der Weiterbildungsträger im Projekt „proalpha“ 200 Beschäftigte von öffentlichen Einrichtungen sensibilisiert und 212 Personen geschult. Diese Zahlen zeigen, dass das Thema mittlerweile im Land angekommen ist. Auch neue Partner wie die IHK kommen mittlerweile von sich aus auf Rzejak und sein Team zu. „Das ist eine positive Entwicklung, die letztendlich der kontinuierlichen Arbeit mehrerer Parteien an diesem Thema zuzuschreiben ist“, so der Geschäftsführer. Seit 2017 gibt es außerdem die „Landesnetzwerkstelle Alphabetisierung und Grundbildung in Sachsen-Anhalt“, die ebenfalls ESF-gefördert ist und die „Arbeit und Leben“ zusammen mit zwei anderen Trägern betreibt. „Die Netzwerkstelle ist eine wichtige Einrichtung, um das Thema in der Öffentlichkeit noch bekannter zu machen, weiter zu entwickeln und neue Partner zu finden. Inzwischen haben wir sogar den Ministerpräsidenten Reiner Haseloff als Schirmherrn für die Alphabetisierungsarbeit in Sachsen-Anhalt gewinnen können“, freut sich Rzejak.
Hier finden Sie weitere interessante Beispiele, wie die Menschen von EU-Fördermitteln aus ELER, EFRE und ESF in Sachsen-Anhalt nachhaltig profitieren.
Weitere Quellen:
Informationen des Bildungsministeriums zur AlphaDekade 2016-2026
Übersicht in der Förderdatenbank des Bundes
Portal „Europa vor Ort in Sachsen-Anhalt“ der Europäischen Kommission