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Die neue Ordnung

Mithilfe eines Flurbereinigungsverfahrens wird dem Hochwasser-Chaos begegnet

(von Bianca Kahl - 23.03.2017)

Jürgen Niehle weiß, wie es ist, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. „Zwei Autos sind mir Schrott gegangen”, erzählt er. Im Jahr 2005 war sein Audi A4 bis unters Dach mit Wasser gefüllt. Er wohnt mit seiner Familie am niedrigsten Punkt des Dorfes Görschen in der Nähe der Stadt Naumburg (Saale). Drei Straßen führen zur Kreuzung vor seinem Hof – alle drei gehen steil bergab. Wenn starke Niederschläge kommen, werden die Straßen zu reißenden Bächen und Niehles Grundstück versinkt im Schlamm.
Das meiste Wasser strömt dann einen Hang von den Feldern herab. Gemeinsam mit seiner Nachbarin Susanne Tiedge geht er dort hinauf. Sie stehen vor dem „Waldhof Görschen”, der Pension der Familie Tiedge, und schauen nachdenklich in die hügelige Landschaft. Um sie herum weiden Galloway-Rinder.

Eine Flut mit Folgen

Sie erinnern sich auch an die verhängnisvolle Walpurgisnacht im Jahr 2001, als Tiedges gerade erst den schönen Innenhof neu gepflastert hatten. Schon am Abend war der Himmel gelb. In der Nacht dann die faustgroßen Hagelkörner – und die Flut. Das Abwassersystem in Görschen war nicht mehr in der Lage, die Niederschläge abzuleiten. Auf den höher gelegenen Feldern im Umkreis gab es nichts, dass das Wasser zurückhalten konnte. Die Weidezäune hat es davongespült und die Rinder vom Waldhof Görschen standen auf einer Insel in der Landschaft. Im Nachbarort war ein Bekannter fast auf seinem Hof ertrunken, als er noch schnell sein Garagentor schließen wollte.

Baumaßnahmen sollen schützen

Seit diesen Schreckenstagen wurde hier viel gebaut. Zum Schutz vor dem Wasser sind Wälle, Rückhaltebecken und vieles mehr entstanden. Die Kreisstraße wurde aufgerissen und das Abwassersystem umgebaut. Doch vorher musste ein neuer Wege- und Gewässerplan entstehen. Und das war gar nicht so leicht, denn davon sind viele verschiedene Eigentümer betroffen. Man kann nicht einfach auf dem Reißbrett in die Landschaft malen.
„Ohne Flurbereinigung gibt es keine regionale Entwicklung mehr”, sagt Evelyne Schwikal. Bis zum Jahresende 2016 war sie die Leiterin des Bauamtes der Verbandsgemeinde Wethautal, zu der auch der Ortsteil Görschen gehört. Nun ist sie in den Ruhestand gegangen und zieht Bilanz über die vergangenen Jahre, in denen in den Orten der Region noch einmal viele Würfel neu gefallen sind.

Flächen sinnvoll nutzen und verteilen

Flurbereinigung heißt, dass das Eigentum an Grundstücken neu organisiert wird. Wie Land verteilt ist und wie Flächen genutzt werden, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Gebietsreformen, Erbschaften und die lokale Politik der einzelnen Kommunen haben im Laufe der Zeit für ein kleines Durcheinander im Grundbuch gesorgt. „Was auf dem Papier steht, muss in der Realität nicht unbedingt sinnvoll sein”, erklärt Evelyne Schwikal. Sie berichtet von ungünstigen Zuschnitten der landwirtschaftlichen Nutzflächen, von Rückforderungen durch Gemeinden und Grundstückseigentümern sowie von blockierten Bauvorhaben, weil sich Eigentümergemeinschaften nicht einigen können.

In Görschen steht auf den einstigen Flutwiesen das neue Gewerbegebiet. In den vergangenen Jahren standen die Hallen mehrfach unter Wasser. Heute befindet sich dort aber auch ein großes Regenrückhaltebecken. Auch in den Nachbarorten wurde vorgesorgt. „Es nützt ja nichts, schöne Planungen in der Schublade liegen zu haben”, sagt Schwikal. Gerade bei überregionalen Vorhaben sei es oft nötig, Grundstücke neu zu ordnen. Flächen werden dann entweder getauscht oder die Eigentümer entschädigt. Allein könnten das die Gemeinden aber nicht stemmen. Daher übernimmt das Amt für Landwirtschaft, Flurneuordnung und Forsten (ALFF) in Weißenfels die Gesamtverantwortung. Für Görschen und die Umgebung plant die Sachbearbeiterin Elke Burgau die notwendigen Baumaßnahmen, vermittelt zwischen allen Behörden und anderen Beteiligten und koordiniert die Neuregelung des Eigentums.

Unterstützt durch den ELER und das Land Sachsen-Anhalt

Das ganze Neuordnungsverfahren inklusive der Baumaßnahmen zum Hochwasserschutz und einiger Neupflanzungen schlägt mit 3,1 Millionen Euro zu Buche. Davon kommen mehr als 80 Prozent, also rund 2,6 Millionen Euro, aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) im Rahmen der Fördermaßnahme Flurneuordnung und aus Fördermitteln des Landes Sachsen-Anhalt. Den verbliebenen Eigenanteil teilen sich die betroffenen Gemeinden, der Burgenlandkreis, der Abwasserzweckverband Naumburg, die Agrargenossenschaft Wethautal und die betroffenen Eigentümer. Die Besitzer aller anliegenden Grundstücke organisieren sich in der Teilnehmergemeinschaft, der auch Susanne Tiedge und Jürgen Niehle angehören.

Elke Burgau zählt auf, was unter ihrer Verantwortung alles verwirklicht werden konnte. Auf ihrer Liste stehen viele Erfolge. Zum Beispiel der Flächentausch im Gewerbegebiet Görschen. Er ermöglichte einem ansässigen Unternehmen, für weitere 3 Millionen Euro eine Pulverisierungsanlage zu errichten. Im Ortsteil Rathewitz wurde eine Eigentümergemeinschaft entschädigt, sodass die Gemeinde eine baufällige Ruine sichern konnte. Dort steht jetzt der lang ersehnte Anbau einer Kindertagesstätte. Eine Einfriedung und Parkplätze für die Eltern sind in Planung.

Susanne Tiedge und Jürgen Niehle stehen noch immer auf dem Hang vor dem Waldhof Görschen und beraten sich. Sie hoffen, dass sich der ganze Aufwand lohnt und das nächste Hochwasser sie verschonen wird. „Doch einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht”, weiß Jürgen Niehle. Schon sein alter Großvater hatte immer gemahnt: „Alle 50 Jahre kommt das Wasser.” Mit dem Klimawandel steigt die Gefahr umso mehr.