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Ganz Europa kämpft um den Borstgrasrasen

Schutzgebiete für bedrohte Pflanzen- und Tierarten werden durch die EU gefördert – und der Tourismus im Land ist um eine Attraktion reicher

- von Grit Gröbel -

Borstgrasrasen, Buchenwälder und Berg-Mähwiesen: Von der EU sind sie als besonders schutzwürdige Lebensraumtypen für unsere Flora und Fauna ausgewiesen. Sie gehören zu den 231 Lebensraumtypen und über 1.000 Tier- und Pflanzenarten, die europaweit gefährdet sind. Alle Schutzgebiete sind in einem Netzwerk der Europäischen Union zusammen gefasst. Es heißt „NATURA 2000“. Allein in Sachsen-Anhalt fallen 11 % der Flächen in dieses Netz. Die besondere Schutzwürdigkeit der wildlebenden Pflanzen- und Tierarten wird nicht zuletzt durch den ELER unterstützt. ELER ist der Fonds für die von Brüssel geförderte Entwicklung des ländlichen Raums. Und im Rahmen von NATURA 2000 sieht die ganz vielfältig aus. So beschäftigt sich beispielsweise die Hochschule Anhalt mit dem Monitoring und dem Management von NATURA 2000-Gebieten, oder es geht um die Stärkung der Population der Sand-Silberscharte an der Elbe. Letzteres ist ein Projekt des Bernburger Professor Hellriegel Instituts e. V.
Was für den Nichtbotaniker nach Fachchinesisch klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen zu einem Paradies für alle. Einen Einblick in ein solches verschafft Kerstin Rieche. Sie ist vom Landschaftspflegeverband Harz e. V. und verantwortlich für ein Projekt in einem von insgesamt 265 NATURA 2000-Gebieten in Sachsen-Anhalt.

Red.: Wiese ist nicht gleich Wiese. Das vermitteln Sie auf Ihren Wanderungen rund um Stiege den Gästen. Was meinen Sie damit?

Kerstin Rieche: Der Harz ist für unser Bundesland das Schwerpunktgebiet für Bergwiesen. Die echten unterscheiden sich vom Wirtschaftsgrünland durch ihre vielfältige Struktur, das Vorkommen charakteristischer Pflanzenarten wie Wald-Storchschnabel oder Kanten-Hartheu. Echte Bergwiesen beherbergen auch viele Tierarten. Besonders die Schmetterlinge sind für uns wichtige Indikatoren für den Zustand einer Wiese. Sie zeigen uns, dass unsere Arbeit Früchte trägt. Denn dass wir jetzt mit den Urlaubern über echte Bergwiesen wandern können, war nicht immer so.

Red.: Sie meinen damit die Wiederherstellung wertvoller Teile unserer Kulturlandschaft und den Schutz von Flora, Fauna, Habitat. Lässt sich dies auch in Zahlen ausdrücken?

Kerstin Rieche: Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es circa vier Tausend Hektar Bergwiesen. Dann setzte die Intensivierung der Landwirtschaft ein. Zur Wende waren es in Sachsen-Anhalt nur noch etwa 500 Hektar. Jetzt hat sich im Land die Zahl verdreifacht. Ein toller Erfolg. Bedenken Sie bitte, dass manche Wiesen an die 100 Pflanzenarten beherbergen. Durch biotopgerechte Mahd und Pflege können wir z. B. auf Wiesenbrachen den Lebensraum Bergwiese wiederherstellen. Und wenn ich vom Aussterben bedrohte Arten wie Arnika oder Mohrenfalter entdecke, weiß ich, dass ich das Richtige tue.

Red.: Sie haben also als studierte Agraringenieurin die Schreibtischseite gewechselt? Schließlich müssen Sie die Landwirte überzeugen, dass naturnahe Lebensräume ebenso existenziell sind.

Kerstin Rieche: Nein, im Gegenteil! Unser Verein arbeitet eng mit den Landwirten zusammen. Und da ich praktisch aus dem gleichen Stall komme, weiß ich um ihre Belange, kann sie verstehen. Dadurch ist es möglich, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die Borstgrasrasen beispielsweise befinden sich oft an kargen Waldrändern, Bergwiesenbrachen an steilen Hängen oder auf Rest- und Splitterflächen.
Also alles Flächen, auf denen keine Landwirtschaft mehr betrieben wird. Sie dennoch nicht zu vernachlässigen, da setzt unser NATURA 2000-Projekt an. Biologische Vielfalt ist unser Ziel, davon profitieren alle.

Red.: Nun ist Ihr Verein einer von vielen des Naturschutzes und der Landschaftspflege im Land, der mit Geldern des EU-Fonds ELER gefördert wird. Wie stellen Sie sicher, dass sich die Bergwiesen auch nach Ende des Förderzeitraumes so farbenfroh präsentieren?

Kerstin Rieche: Bereits einige der Flächen, die sich in unserer Obhut befanden, werden jetzt direkt durch die Landwirte gepflegt. Weitere sollen folgen.  Landwirtschaft und Naturschutz müssen ineinander greifen. Unser Verein übernimmt mit Unterstützung des Landkreises und vieler Ortschaften des Harzes selbst die weitere Pflege wertvoller Flächen. Ich bin froh, dass wir hier gut zusammenarbeiten. Denn ich bin mir sicher, dass nur dann Fördermittel sinnvoll eingesetzt werden können. Und bei unserem Projekt sprechen wir immerhin von gut 73.500 Euro von der EU und rund 24.500 Euro vom Land für einen Zeitraum von drei Jahren.

Red.: Zum Schluss eine persönliche Frage. Was macht Sie glücklich, wenn Sie über die wieder hergestellten Bergwiesen im Harz gehen?

Kerstin Rieche:   Die Vielfalt von Duft und Farbe auf den Bergwiesen, aber auch die geretteten Borstgrasrasen. Und das nicht nur aus naturschutzfachlicher Sicht. Ganz Europa kämpft um diesen Lebensraumtyp. Anderswo muss er regelrecht neu angelegt werden. Wir sind in der glücklichen Lage, ihn noch zu haben. Wir müssen ihn „nur“ pflegen. Das ist kostengünstiger. Was die Voraussetzungen betrifft, so können wir uns in unserer Region im siebten Himmel fühlen.

Ihren siebten Himmel teilt Kerstin Rieche gern bei den Bergwiesenwanderungen. Kamen zur ersten vor vier Jahren nur zwei Interessierte, so sind es heute im Durchschnitt 30, bei der letzten waren sogar 58 Naturfreunde dabei. Die nächste geführte Wanderung findet am 7. August 2011 statt. Treffpunkt ist um 14:00 Uhr in Allrode. Anmeldung erforderlich.

Der ELER trägt in Sachsen-Anhalt mit rund 904 Millionen Euro EU-Mittel - ein Viertel der gesamten dem Land von der EU zugewiesenen Fördergelder - dafür Sorge, dass die Entwicklung des ländlichen Raums sich als integraler Bestandteil der Gesamtpolitik für Beschäftigung und Wachstum vollzieht. Zusammen mit der nationalen Kofinanzierung stehen öffentliche Ausgaben in Höhe von 1,16 Milliarden Euro bereit. Zusätzlich will Sachsen-Anhalt 240 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt beisteuern, so dass das Land rund 1,326 Milliarden Euro für die Entwicklung des ländlichen Raums einsetzen kann.